Chaos und Ordnung in Patchworkfamilien aus Sicht des „Familienstellens“
Ein junger Mann lernt eine junge Frau kennen. Es ist für beide die große Liebe, sie heiraten, bekommen Kinder und werden gemeinsam alt. Auch wenn heute junge Menschen vielleicht noch davon träumen – dies gehört einer vergangenen Epoche an.
Die Realität sieht anders aus. Beziehungen entstehen und zerbrechen wieder. Paare bekommen Kinder, heiraten, oder auch nicht, und trennen sich wieder. Die Scheidungsrate steigt seit den 60er Jahren permanent an. Jede zweite Ehe, die heute geschlossen wird, wird innerhalb von sieben Jahren wieder geschieden. Und mehr als die Hälfte der geschiedenen Eltern hat schon nach einem Jahr wieder einen neuen Partner. Etwa drei von zehn Kindern erleben darum bis zu ihrem 18. Lebensjahr eine Patchwork-Konstellation. Patchworkfamilien, auch Stieffamilien genannt, gibt es immer häufiger. Und mit diesen neuen Familienkonstellationen entstehen neue Probleme, die neuer Lösungen bedürfen.
Ulrike, eine Klientin, ist Mutter von Jonas, ihrem neunjährigen Sohn. Sie hat mich aufgesucht wegen Partnerschaftsproblemen und wegen großen Schwierigkeiten, die sie mit ihrem Sohn hat. Das Kind ist von ihrem ersten Mann. Trennung und Scheidung waren sehr schwierig, es war mehr eine Art Krieg. Anlass für die Trennung war eine Außenbeziehung ihres Mannes. Ulrike ist noch Jahre danach wütend auf ihren geschiedenen Mann. Sie lässt kein gutes Haar an ihm.
Walter, der Vater des Jungen, hat nur sporadischen Kontakt mit seinem Sohn. Mehr und mehr lehnt Jonas es ab, seinen Vater zu sehen. Ulrike lebt inzwischen wieder in einer festen Beziehung. Benedikt, ihr neuer Partner, mit dem sie nun lebt, ist ebenfalls geschieden und hat zwei Kinder aus dieser Ehe, die bei der Mutter aufwachsen und die er auf Grund der räumlichen Entfernung nur selten sieht. Benedikt bemüht sich, Jonas ein guter Vater zu sein. Nach außen hin scheint alles in Ordnung, doch auch in der neuen Beziehung kriselt es schon wieder gewaltig. Das Glück des Anfangs hat sich seit längerer Zeit schon verabschiedet. Immer mehr gibt es Streit zwischen dem Paar, einhergehend mit vielen Verletzungen. Anlass ist meist Jonas, der sich immer wieder mit Benedikt anlegt, obwohl dieser sich wirklich sehr um den Jungen bemüht und ihm den fehlenden Vater ersetzen will. Aber auch mit seiner Mutter liefert sich Jonas regelmäßig heftige Gefechte, die an Intensität zunehmen. Einmal hat Jonas sie sogar geschlagen. Beide fragen sich immer wieder: „Was machen wir bloß falsch“?
Die gute Ordnung in der Familie
Familiensteller und Therapeuten haben bestimmte Erfahrungen gewonnen, was die grundsätzlichen Beziehungen und Ordnungen einer Familie betrifft. Zur jetzigen Familie gehören nicht nur die beiden Partner, sondern alle früheren Partner und die Kinder, die aus diesen Partnerschaften hervorgegangen sind, auch die abgeriebenen. In diesem Fall wären dies die Klientin, Walter, ihr erster Mann, Jonas, der gemeinsame Sohn, Benedikt, ihr jetziger Partner, dessen frühere Frau und die beiden Kinder. In der Aufstellung zeigt sich, dass Ulrike immer noch sehr zornig auf ihren Mann ist. Dieses Gefühl wirkt sich auf die Beziehung zu ihrem gemeinsamen Sohn aus. Denn dieser ist ja zur Hälfte genetisch wie sein Vater. Wie soll die auf den Vater von Jonas wütende Mutter da ihren Sohn ganz annehmen und lieben können? Dazu muss sie in ihrem Herzen mit dem Vater ins Reine kommen und sich versöhnen.
Jede Trennung ist schmerzlich. Diesem Schmerz, der entsteht, wenn zwei Menschen sich – warum auch immer – trennen, muss man sich stellen. Von wem die Trennung ausgegangen ist, und wer sie verursacht hat, spielt dabei keine Rolle. Wie kann man das achtungsvoll tun? Wenn Ulrike wütend auf Ihren geschiedenen Mann ist, spürt Jonas diese Wut unbewusst. Und in dem Maß, wie er seinen Vater abgelehnt fühlt, fühlt er auch sich unbewusst abgelehnt, was dazu führt, dass er in Rebellion gegen seine Mutter und Benedikt, ihrem neuen Partner geht. Jonas ist aber auch auf seinen Vater wütend und lehnt ihn ab.
Man kann sich von seinem Partner trennen. Auf der Elternebene jedoch gibt es keine Trennung. Da sind wir immer miteinander verbunden. Und in dem Maß, wie wir den früheren Partner achten, achten wir auch das gemeinsame Kind. Den früheren Partner achten heißt nicht, dass wir alles für gut heißen müssen, was er während der gemeinsamen Paar-Zeit getan hat. In jeder Beziehung gibt es oder gab es Grund zur Dankbarkeit. Viel Gutes und viel Liebe ist –neben all dem Schlimmen – hin und her geflossen. Anfangs wurden viele Träume, Wünsche und Hoffnungen geteilt, auch wenn sich diese später enttäuscht wurden. Für diese Enttäuschung muss jeder der Partner seinen Teil der Verantwortung übernehmen. Sätze wie „Ich überlasse dir deinen Teil der Verantwortung an unserer Trennung und was ich zu verantworten habe, trage ich“, entspannen und geben inneren Frieden. Sie stellen einfach eine Realität dar. Am Scheitern einer Partnerschaft sind immer zwei beteiligt. Es gibt keinen Alleinschuldigen und keinen allein Unschuldigen. Diese Wahrheit wird jedoch in den Gefühlsstürmen einer Trennung allzu oft vergessen.
In der Aufstellung sagt Ulrike ihrem geschiedenen Mann ferner die Sätze: „Ich danke dir für alles, was ich von dir bekommen habe, und was du von mir bekommen hast, darfst du gerne behalten“. Und „“Ich gebe dir einen Platz in meinem Herzen als meinem ehemaligen Mann.“ Solche Sätze beenden das Hin und Her von Beschuldigungen und das entlastet alle Beteiligten. Ein früherer Partner gehört zu unserem Familiensystem und wir können ihn nicht einfach willentlich ausschließen. Wenn wir ihn mit Achtung betrachten, dann tut das uns selbst und dem anderen gut. Erst dann sind wir in der Lage, uns von ihm zu lösen und Platz für die neue Beziehung zu schaffen. Durch den gemeinsamen Sohn bleibt Ulrike mit ihrem Mann verbunden. Übrigens: Wer auf seinen bisherigen Partner schimpft, der stört auch die eigene Beziehung, denn insgeheim wird sich der jetzige Mann/Frau fragen, ob ihn wirklich so viel von dem anderen unterscheidet. Wenn der Vorgänger erst die große Liebe war und jetzt zum Buhmann gemacht wird – warum sollte es dem zweiten anders ergehen?
Was ist möglicherweise noch in Unordnung im Leben der Klientin? Sie hat erzählt, dass Benedikt sich bemüht, ihrem Sohn ein guter Vater zu sein. Hier liegt eine weitere Ursache der Verwirrung. Jedes Kind hat biologisch nur einen Vater und eine biologische Mutter. Die Bedeutung dieser biologischen Elternschaft ist enorm. Ein tiefes Band verbindet ein Kind mit seinen biologischen Eltern, selbst wenn diese ihre Sache nicht gut machen, ja selbst, wenn das Kind seine Eltern nicht kennt. Niemand kann den Platz der biologischen Eltern einnehmen. Benedikt kann zwar Jonas, dem Kind seiner Partnerin all seine Liebe schenken, aber das macht ihn nicht zum Vater. Will er Jonas ein besserer Vater sein, bringt er diesen in unlösbare Loyalitätskonflikte. Diese Konflikte drückt Jonas aus, wenn er sowohl auf seinen leiblichen Vater wütend ist und diesen nicht sehen möchte und in seinen Aggressionen gegenüber seiner Mutter und gegen Benedikt. Genau betrachtet, ist Jonas gegen alle aggressiv, die eine große Bedeutung für ihn haben. Letztlich ist das Ausdruck seiner elementaren Selbstablehnung.
Schließlich gibt es noch eine dritte Störquelle für Konflikte in dieser Familie. Benedikt hat sich von der Wut, die Ulrike, seine Partnerin, gegen ihren früheren Mann hat, anstecken lassen. Auch er ist Walter gegenüber sehr negativ eingestellt und schimpft – verständlicherweise – öfters über ihn, weil Walter seinen Unterhaltszahlungen für Jonas nur sporadisch nachkommt. Das kann man gut verstehen, ist aber trotzdem nicht gut. Denn es bringt Jonas noch mehr in Loyalitätskonflikte, die er in Aggression gegen alles, was ihm lieb und wert ist, ausdrückt. Spätere Partner haben die früheren zu achten. Auch dann, wenn diese sich nicht immer hilfreich verhalten. Damit ist gemeint, dass Benedikt den früheren Mann seiner Partnerin als ihren ersten Mann anerkennt. Dieser gehört mit zum Leben seiner Partnerin, so wie seine erste Frau Teil seines eigenen Lebens bleibt. Ebenso muss Ulrike Benedikts erste Frau achten. Wer versucht, einen früheren Partner des anderen zu verdrängen, ignoriert damit einen Teil der Realität und erzeugt Spannungen und Schwierigkeiten in der neuen Beziehung. Erst in der Anerkennung der früheren Realitäten und der beteiligten Menschen ist ein spannungsfreier Umgang in einem solch großen System und Beziehungsgeflecht möglich.