Kein Kind kommt umhin, Verletzungen, Enttäuschungen und Kränkungen erleben zu müssen. Die meisten dieser schwierigen Erfahrungen machen  wir in unserer früheren und späteren Kindheit in unseren Familien. Auch gute Eltern können ihren Kindern diese Erfahrungen nicht ersparen. Je früher diese Schmerzerfahrungen gemacht werden, desto prägender sind sie. Gerade diejenigen schlimmen Erfahrungen, die wir in den ersten Jahren gemacht haben, haben uns extrem geprägt. Eben weil sie oft vorbewusst oder im Alter von drei bis sechs Jahren gemacht wurden, haben wir keine oder nur vage Erinnerungen daran. Und doch sind diese Erfahrungen nicht einfach weg. Wir tragen sie in uns wie einen zweiten inneren Körper. Eckart Tolle nennt ihn den „Schmerzkörper“. Er ist vergleichbar mit einer eigenständigen Persönlichkeit, die in uns lebt.

Logisch wäre es, unangenehme und schlimme Erfahrungen, die wir einmal gemacht haben, zu vermeiden wie der Teufel das Weihwasser und nie mehr in Berührung mit diesen zu kommen. Psycho-logisch jedoch tun wir jedoch genau das Gegenteil. Wir re-inszenieren die Dramen unserer Kindheit immer wieder von neuem. Dies tun wir besonders in den Beziehungen, in denen wir leben; in der Beziehung zu unseren Kindern und in besonderem Maß in unseren Paarbeziehungen.

Dieser Schmerzkörper besteht aus einer Ansammlung von alten emotionalen Wunden. Er ist nicht immer erkennbar an der Oberfläche, weil er sich oft im Schlafzustand befindet. In diesem Zustand nehmen wir ihn nicht wahr. Er kann allerdings nicht allzu lange in diesem Schlafzustand verharren, denn er muss irgendwann einmal wieder Nahrung aufnehmen. Diese Nahrung nimmt er auf, indem er ein Drama erfährt. Er braucht negative Emotionen, um sich an diesen zu ernähren. Dies tut er meistens dadurch, indem er in einer engen Beziehung Streit sucht. Wir suchen uns unbewusst Partner, die alte, weit zurückliegende Verletzungen berühren und so den Schmerzkörper füttern. Der Schmerzkörper braucht Dramen um zu überleben. Er kann sich nur von negativer Energie ernähren. Wir sind fast süchtig danach, diese Dramen zu durchleiden. Dass auch mein Partner oder meine Partnerin einen Schmerzkörper hat, macht das Ganze nicht einfacher. Unbewusst suchen und finden sich häufig Menschen, die sich auf der einen Seite zwar lieben, auf der anderen Seite jedoch in ihren Schmerzkörpern zusammenpassen, wie Schlüssel und Schloss. Deshalb gibt es so viele Paare, die nicht gut miteinander, aber auch nicht ohne einander können. Sie brauchen den immer wiederkehrenden Streit, den mal der Eine, mal der Andere anfängt, je nachdem, wessen Schmerzkörper gerade besonders hungrig ist. So entstehen aus dem Nichts große Dramen, bis hin (bei sehr unbewussten Menschen) zur Gewalttätigkeit. In dem Moment, indem der Schmerzkörper aktiviert wird, will der Mensch mehr Schmerz. Wenn nach einiger Zeit des Streits beide Schmerzkörper genug Nahrung aufgenommen haben, ziehen sie sich satt zurück und schlafen. Dann ist scheinbar wieder alles gut und Versöhnung möglich. Aber natürlich ist nicht alles wieder gut, denn der Schmerzkörper schläft nur und wird wieder erwachen und dann beginnt das Drama von neuem.

Die Freiheit vom Schmerzkörper beginnt, sobald wir ihn als solches erkennen. Dann sind wir nicht mehr identifiziert mit ihm. Wenn wir ihn nicht erkennen, ist er Teil unseres falschen Ichs, nämlich dem Ego,  und wir sind ihm hilflos ausgeliefert. Nur durch das Nichterkennen kann er Besitz von uns ergreifen und hat die Macht über uns.  In dem Moment aber, in dem wir den Schmerzkörper als solchen erkennen, ist er noch da, aber er ist nicht mehr identisch mit mir, sondern ein Teil von mir. Damit hört die unbewusste Identifikation mit diesem auf. Dann kann ich entscheiden, wie viel Macht ich diesem Anteil in mir gebe. Das ist ein wunderbarer Fortschritt. Natürlich ist es nicht möglich, dass wir den Schmerzkörper einmalig in uns erkennen und danach nie mehr mit ihm identifiziert sind. Es braucht Übung im Bewusstwerden, was einer spirituellen Praxis gleich kommt. Vielleicht ist ein erster Schritt der, dass wir nach einem Streit, vielleicht ein oder zwei Tage später, sehen können, „ah, da wurde wieder mein oder dein oder unser Schmerzkörper gefüttert“. Die Freiheit vom Schmerzkörper beginnt, wo man ihn als solchen erkennt. Und das das ist schon das Wichtigste. Denn mit dieser Wahrnehmung ist man nicht mehr ausgeliefert, sondern ist handlungsfähig. Dann kann ich sagen, „ja, ich habe Schmerz, aber ich bin nicht der Schmerz“. Und ich kann sehen, dass derjenige, der den Schmerz in mir ausgelöst, mir im Letzten dient, weil er es mir möglich macht, mich weiter zu entwickeln und dadurch ein Stück heiler und vollkommener zu werden. Dann ist der Schmerz-Auslösende nicht mehr per se mein Feind, sondern ein, zugegebenermaßen nicht immer angenehmer, aber letztlich ein hilfreicher Gefährte, der mir hilft, zu meinem „wahren Ich“ zu finden, das vollkommen intakt und unverwundbar ist, weil es göttlich ist.

 

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